Organisationen und Unternehmen entstehen nicht zufällig. Sie werden durch Menschen initiiert, die sich mit anderen zusammenschließen, um mindestens einen Zweck zu erfüllen. (Und das nicht erst seit findige Berater das Purpose-Thema als neue „Sau durchs Dorf treiben“.) Hierzu interagieren diese Menschen miteinander und als Organisation interagieren sie mit ihrer Umwelt. Die Art und Weise wer mit wem und wie interagiert, prägt bestimmte Schemata aus, die wir unter dem Begriff Kultur subsummieren. Nach Ed Schein ist die Kultur einer Organisation die Ansammlung des gemeinsamen Gelernten. Also das, was sich bei der externen Anpassung an die Umwelt und der internen Integration positiv bewährt, Probleme gelöst und gut funktioniert hat. Dies wird neuen Mitgliedern der Organisation auch gelehrt bzw. durch Hinweise oder Feedback so eingeimpft, dass ein ähnliches Verhalten daraus entsteht. So entsteht ein Muster von Überzeugungen, Werten und Verhaltensregeln, die als so grundlegend empfunden werden, dass sie schließlich aus der Bewusstheit ins Unterbewusste übergehen. Dann sprechen wir auch gerne von der kulturellen DNA.
 
Der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins hat aus dieser Erkenntnis heraus auch gefolgert, dass die Entwicklung des menschlichen Verhaltens im Gegensatz zu der physischen Entwicklung nicht alleine über die genetischen Anlagen/ genetische Prädisposition zu erklären ist, sondern dass eine kulturelle Entwicklung eine ebenso wichtige Rolle für die Evolution des Menschen spielt. Er führte den Begriff „Meme“, abgeleitet vom griechischen Wort „mimema“ [Nachgeahmtes oder Nachahmung], als Träger kultureller Information in Ergänzung zu „Genen“ als Träger der biologischen (physischen) Information in der Wissenschaft ein. Simon Sagmeister zeigt in seinem Buch „Business Culture Design“ eine für mich sehr anschauliche Analogie aus der IT-Dimension auf: „Gene sind kleine Muster auf unserer DNA, die unsere Hardware bestimmen, wie etwa Blutgruppe, Haarfarbe, Körpergröße etc. Meme sind der Softwarecode, der unseren Geist programmiert.“
Meme entstehen, wenn Menschen auf eine Erfahrung reagieren. Ein Mem kann Handlungsanweisung, soziales Artefakt, werteaufgeladenes Symbol, vorgelebte Verhaltensweise, Ideal, Ziel, Überzeugung oder ähnliches sein. Ich möchte das Bild der Meme an einem Beispiel verdeutlichen. Der große Begriff der Kundenorientierung ist ein Mem, welches sich aus vielen kleineren Memen zusammensetzt, wie zum Beispiel der Freundlichkeit im persönlichen Kundenkontakt, in der Zuverlässigkeit der Einhaltung von Zusagen und so weiter.
 
Im Gegensatz zu den Genen, die sich von einer Generation zur nächsten linear übertragen, können Meme kreuz und quer übertragen werden. Die Übertragung der Meme erfolgt durch Kommunikation. Hierbei ist Kommunikation im weitesten Sinn zu verstehen. Nicht nur über Sprache, auch über Schrift oder Imitation des Vorgelebten werden Meme weitergegeben, angepasst oder verändert. Kommunikation ist also der Träger jeglicher Kultur. Dies gilt es auch im Führungsalltag in Unternehmen zu berücksichtigen. Führungskräfte prägen die Unternehmenskultur mit ihrem kommunikativen Wirken. Dies umfasst wesentlich mehr als die regelmäßigen Mitarbeitergespräche, Infoveranstaltungen und Projektmeetings. Ein wesentlicher Aspekt unter vielen ist hierbei, sich bewusst zu machen, dass das archaische Prinzip der Imitation bei uns Menschen genetisch veranlagt ist. Somit wirkt es kulturell wesentlich stärker als zum Beispiel die gehörten oder gelesenen Worte. Die Mitarbeitenden reflektieren und imitieren unbewusst das Verhalten der Führungskräfte. Somit ist eine der kommunikativen Herausforderungen für Führungskräfte, Vorbild für das neu zu erlernende Verhalten zu sein. Weitere Beispiele zur Förderung der kommunikativen Kompetenz von Führungskräften entnehmen Sie gerne meinem Podcast zum Thema Kommunikation.
 
Durch die kommunikativen Entwicklungen in unserer Gesellschaft, gefördert durch die vermehrte Internationalisierung, den erhöhten Vernetzungsgrad und der permanenten Dynamisierung deren technologische Abbildung das Internet symbolisiert, erreicht die Kommunikation und der Informationsaustausch eine noch nie dagewesene Geschwindigkeit. In der Folge bedeutet das auch, dass ein einzelnes Mem in kürzester Zeit viel mehr Menschen erreichen kann als jemals zuvor. Das heißt, die kulturelle Entwicklung beschleunigt sich auf allen gesellschaftlichen, strukturellen und normativen Ebenen. Frederick Laloux zeigt dies in seinem Buch „Reinventing Organisations“ sehr anschaulich:

kulturelle Evolution

Laloux benutzt bei seiner Darstellung der Entwicklung der organisationellen Kulturen in der Menschheitsgeschichte das Modell des Spiral Dynamics von Christopher C. Cowan,  welches wir in einem der folgenden Blog-Beiträge noch separat behandeln werden.
 
Was für die kulturelle Entwicklung in der Menschheitsgeschichte zutrifft, gilt auch für die kulturelle Entwicklung in Unternehmen: Einerseits wird jedes größere Wachstums- oder Veränderungsvorhaben im Unternehmen auch eine kulturelle Veränderung bedingen, um sich im Unternehmensalltag zu etablieren. Andererseits müssen Unternehmen auch auf die kulturellen Veränderungen in ihrem Umfeld reagieren. Dies trifft erst recht in gesellschaftlichen Umbruch- und Krisenzeiten zu. Der aktuelle Lockdown, der durch die Reaktion auf die Corona-Pandemie in fast allen Staaten ausgerufen wurde, wird die Gesellschaften und die Unternehmen mit einer neuen Dimension auch von kulturellen Herausforderungen konfrontieren. Egal wie das Zukunftsszenario auch aussehen mag, eins ist relativ sicher, ein „weiter so wie bisher“ wird es nicht geben.
Sich aber bereits jetzt, Ende März 2020, mit neuen Strategien oder der Anpassung von Geschäftsmodellen zu beschäftigen, macht wenig Sinn. Die Dimensionen der Pandemiekrise sind zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal erfassbar, geschweige denn die Dimension der anschließenden Wirtschafts- und Finanzkrise. Führungskräfte sollten diese aktuelle Zeit auch dafür nutzen, sich ihrer selbst zu besinnen und ihre kommunikativen Kompetenzen weiter auszubauen. (Hier nochmals der Hinweis auf meinen Podcast „Führung ist Führung“ – Episode Kommunikation.) Betrachten Sie dies als ein Handwerkszeug, was Sie in wenigen Monaten unbedingt gebrauchen müssen, um die Chancen der Neugestaltung auch zu einem nachhaltigen Nutzen für alle Beteiligten - Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Partner - führen zu können.

Autor

Alfred Doll

Nein, man muss nicht zwangsläufig demonstrieren gehen oder sich an Bäumen festketten, um ein Aktivist zu sein. Karl Popper definiert Aktivismus als „Die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens.“ Sich intensiv mit dem Thema Führung auseinandersetzen, Systeme analysieren, hinterfragen und dabei aktiv beeinflussen – das tut Alfred Doll nunmehr seit 40 Jahren. Er ist Informatiker mit den Schwerpunkten Künstliche Intelligenz und Komplexitätsanalysen und hat eine philosophische Führungsbildung bei dem Jesuitenpater Rupert Lay genossen. Er war Offizier der Bundeswehr und in der AMF-„NATO-Feuerwehr“. Als Vorstand, Führungskraft und Manager war er in leitender Funktion in Konzernstrukturen, im Mittelstand und auch in Start-up-Unternehmen tätig. Über 18 Jahre begleitete er als Berater und Coach Unternehmen und ihre Führungskräfte unter dem Motto „Changes to grow“. Darüber hinaus war er Initiator und Mitbegründer des Ethikverbands der deutschen Wirtschaft. Er weiß, was in der Praxis wirkungsvoll ist, wie man Menschen fördern und Performance steigern kann und kennt die Herausforderungen der Organisationsentwicklung und Kulturveränderung. Als Systemaktivist stellt er jetzt seine fundierte Expertise zur Verfügung – als Diskussionspartner, Impuls- und Ratgeber vor Ort und publizistisch als Blogger, Podcaster und Buchautor.